Die Olympischen Spiele waren und sind für mich das grösste aller Ziele. Der Traum wurde in den letzten fünf Jahren zur realen Möglichkeit und schliesslich zur Wirklichkeit. Schon lange hatte ich einen Blick auf Tokyo 2020 geworfen und offen gesagt, da will ich hin. Der Weg dahin, vor allem die lange Qualifikationsphase, waren nicht immer einfach, aber das soll es bekanntlich auch nicht sein, oder?
Ein grosses Ziel
Als ich mit 14/15 Jahren realisiert hatte, dass Tokyo in Sichtweite und sogar ein realistisches Ziel für mich sein könnte, hat es sich in meinem Kopf festgesetzt und mich nicht mehr losgelassen. Ich war entschlossen, die Olympischen Spiele in Tokyo 2020 waren mein Ziel. Auch wenn es 2016 und ein Jahr später noch sehr weit weg war, behielt ich es im Hinterkopf und scheute mich ebenfalls nicht davor, offen zu kommunizieren, dass ich ein grosses Ziel habe. Das erste Mal, als mir bewusst wurde, dass die OS 2020 rasant näher kamen, war Ende 2018, als ich meine zweite Verletzung in Folge hatte. Mir war klar, dass es ab jetzt holpriger werden würde, denn während der Saison 2019 fand bereits der Selektionsprozess für Tokyo statt.
Hürden im Qualifikationsprozess
Wegen den Verletzungen war also die Vorbereitung auf die Saison sehr suboptimal und ich hatte Mühe, auch wegen wiederholten Schulterbeschwerden, in die Saison reinzufinden. Als dann im September die Weltmeisterschaft anstand, der wichtigste Selektionswettkampf für Tokyo im Jahr 2019, hatte ich eine harte, nicht sehr viel versprechende Saison hinter mir. Die WM lief ein wenig besser als viele andere Wettkämpfe in diesem Jahr, doch der Sprung war zu hoch und ich verpasste den Quotenplatz um einiges. Das Gute war, dass es noch eine weitere Chance im Frühling an der Europameisterschaft geben würde, um den letzten Quotenplatz für die Schweiz zu gewinnen. Der Selektionsprozess ging also weiter. Doch niemand ahnte, dass sich das Ganze nochmals um ein Jahr strecken würde. Als im Frühling 2020 verkündet wurde, dass die Olympischen Spiele verschoben werden würden, konnte ich erstmal aufatmen. Ich war froh, wurden sie nicht abgesagt und so hatte ich ein weiteres Jahr Zeit, mich darauf vorzubereiten. Während des Lockdowns trainierte ich fleissig und mit einem höheren Trainingsvolumen, da dies dank Fernunterricht in der Schule und dem Glück einer Outdoorsportart sowie dem Profisportler-Status möglich war. Trotz Corona konnten letzten Sommer einige Trainingslager und ein paar wenige Wettkämpfe stattfinden, wofür ich sehr dankbar war, auch wenn die ruhige Zeit des Lockdowns sehr gut getan hatte. Ich merkte bei den Wettkämpfen deutlich, dass mir die 2019 Saison noch in den Knochen steckte, oder besser gesagt im Selbstbewusstsein. 2020 bis Anfang der Saison 2021 (und jetzt noch teilweise) war ich stark damit beschäftigt, dies aufzuarbeiten, um das Vertrauen in mich und mein Können wieder zu finden, das nach den Verletzungen verloren ging.
Europameisterschaft 2021
Statt der Europameisterschaft im Frühling 2020, war nun derselbe Wettkampf ein Jahr später und an einem anderen Ort, die entscheidende letzte Chance, um das Ticket für Tokyo zu holen. Das Ziel war klar, die Augen waren auf diese EM gerichtet, die der Höhepunkt unserer Vorbereitung war. Die Chancen standen gut für mich und meine Teamkollegin, denn die anderen Länder, die noch um einen Quotenplatz kämpften, waren auf demselben oder sogar ein wenig tieferem Niveau. Was im Kanuslalom aber nichts heissen mag, denn alles kann passieren und ein kleiner Fehler hat in einem Lauf schnell grosse Konsequenzen. Jedenfalls wusste ich, dass es möglich war und dass ich es schaffen konnte. Meine Vorbereitung war gut, ich war zufrieden mit den letzten Trainings und ich fühlte mich in Form. Ausserdem wusste ich, dass mir die Strecke in Ivrea, wo ich auch schon meinen letzten grossen Erfolg (Bronze an der Junioren WM 2018) sehr gut liegt und ich darauf schnell sein kann. Ich fühlte mich bereit, zu liefern. Den Druck und die Zweifel stellte ich in den Hintergrund, um meine Aufgabe zu erfüllen. Was mir auch gelang. Mit einem soliden ersten Qualilauf (eine Berührung und einen kleinen Fehler) qualifizierte ich mich gleich fürs Halbfinale. Wenig später wurde klar, als keine andere mögliche Quotenplatz-Kandidatin den Einzug ins Halbfinale schaffte, dass dies der Lauf gewesen war, mit dem ich mich für die Olympischen Spiele 2020 qualifiziert hatte. Ich konnte kaum fassen, dass der Traum, auf den ich so lange hingearbeitet hatte, wirklich in Erfüllung ging. Dass ich am selben Wettkampf noch meine erste Top 10 Platzierung bei der Elite im Slalom und einen fünften Rang im Extreme Slalom herausfuhr, krönte diese Europameisterschaft noch.
3, 2, 1… Abflug
Ab jetzt ging alles ganz schnell. Maturprüfungen, zwei Weltcups, Planung der Reise nach Tokyo und Ausfüllen vieler Formulare, damit wir in Japan einreisen durften. Corona machte das Ganze sehr viel komplizierter, doch wir waren einfach nur froh, dass die Olympischen Spiele überhaupt stattfinden würden, was bis zum letzten Moment auf der Kippe stand. In den Tagen vor dem Abflug mussten wir noch zwei Coronatests machen und dann gings auch schon los. Am Tag des Abflugs holten wir unsere Swiss Olympic Bekleidung ab und fuhren dann direkt, schon die offizielle Reisemontur angezogen, zum Flughafen. Langsam wurde es real. Beim Hinflug durften alle Athlet*innen Business fliegen (beim Rückflug nur die Athlet*innen, die eine Medaille gewonnen hatten… ein Projekt der ZukunftJ), was natürlich sehr angenehm war und das perfekt getimte Schlafen und somit das Vermeiden eines Jet Lags stark erleichterte. In Tokyo angekommen, warteten wir erstmal fünf Stunden am Flughafen, bis alle Papiere, Coronatests und noch mehr Papiere gemacht und ausgefüllt und ausgewertet waren. Danach gings direkt zum Hotel, wo wir die nächsten zwei Wochen mehr oder weniger eingesperrt waren.
Pre Games Training Camp
Vom Hotel, zur Trainingsstrecke, wieder zum Hotel. So lautete der Tagesablauf und auch das Maximum an Freiheit, das wir bekamen. Jedoch konnte sich niemand beklagen, denn wir hatten uns die Massnahmen im Hotel schlimmer vorgestellt, als sie waren. Wir mussten nicht einmal allein in unseren Einzelzimmern essen. Ausserdem kamen wir als Outdoorsportart glücklicherweise zumindest ein wenig an die freie Luft. Das Pre Games Training Camp dauerte zwei Wochen und war geprägt von einem klar strukturierten Tagesablauf und dem Kampf, sich an die Hitze und die hohe Luftfeuchtigkeit anzupassen. Diese Wetterbedingungen machten mir stark zu schaffen und auf dem Wasser hatte ich nicht die gewünschte Energie zum Paddeln. Jedoch ging es fast allen Athlet*innen ähnlich und es galt, Strategien zu entwickeln und anzuwenden, um Kopf und Körper zu kühlen. Der Wildwasserkanal in Tokyo ist schwierig, wie es alle Olympiastrecken sind, und wir hatten wenig Zeit, die Strecke kennenzulernen, weil fast alle Trainingslager im Voraus coronabedingt abgesagt wurden. Wir mussten also die Kehrwasser, Walzen und Wellen und die erforderten Bewegungsmuster in kürzester Zeit erlernen, um die verschiedensten Torkombinationen meistern zu können, die am Wettkampf kommen konnten.
Die Aufregung des Olympischen Dorfes
Endlich hatte sich mein Körper langsam an die Hitze gewöhnt und die Strecke und die dazugehörigen Bewegungen kannte ich auswendig. Der Wettkampf lag nur noch sechs Tage entfernt und wir durften ins olympische Dorf umziehen. Die riesige, zweistöckige Essenshalle, die eindrücklichen Häuserblöcke mit vielen Länderflaggen, die vielen Leute, alle mit ihren Ländern angeschrieben und noch vieles mehr sorgten für Aufregung. Ein speziell ergreifendes Erlebnis war die Eröffnungszeremonie. Was ich sonst immer gespannt am Fernsehen mitverfolgt hatte, erlebte ich nun selbst. Die Schweiz an den Olympischen Spielen zu vertreten, ist eine grosse Ehre, die mir erst dann bewusst wurde. Ich war Teil der wichtigsten Sportveranstaltung der Welt, mittendrin in diesem Stadion und über uns die 10’000 Drohnen, die vom Tokyo 2020 Logo zum Erdball wurden. Bei so viel Aufregung und neuen Eindrücken musste man aufpassen, dass man sich noch genügend erholt. Denn der Wettkampf war nun nur noch zwei Tage entfernt.
Wettkampfstage
Am 25.7. war es so weit, die Qualiläufe der Olympischen Spiele 2020 standen an. Mein Wettkampfsprogramm, der generelle Ablauf des Wettkampfs, eigentlich war alles fast gleich wie sonst immer an den internationalen Wettkämpfen. Aber gleichzeitig war es auch anders als alles, was ich bisher an Wettkampfserfahrungen gemacht hatte. Schon in der Vorbereitung spürte man, dass dies der wichtigste Wettkampf der letzten vier (fünf) Jahre ist. Das Gewicht der Boote wird akribisch genau abgemessen, die Kleber auf Boot, Paddel und Helm sind schöner und werden genauer aufgeklebt und jederzeit wird man vom Trainer verwöhnt, fast schon verwirrend. Die Wichtigkeit dieses Wettkampfs wurde mir am Morgen des Wettkampfs nochmals bewusst, und ich habe mich richtig auf meinen Lauf gefreut. Später schlug mir die Nervosität doch noch ein wenig entgegen, ich musste erst einmal überlegen, wie man schonwieder damit umgeht. An der Startlinie hatte ich dann ein gutes Niveau an Nervosität. Doch mein erster Lauf verlief alles andere als geplant. Bis zu Tor 12 lief alles gut, doch dann verpasste ich ein Tor, kippte, musste rollen und verpasste nochmals ein Tor. Der zweite Lauf gelang mir besser, war jedoch noch weit entfernt von einem guten Lauf. Ich qualifizierte mich knapp fürs Halbfinale, welches zwei Tage später stattfinden würde. Wieder war ich nervös, doch ich kannte genau dieses Gefühl jetzt schon vom Qualitag und ich konnte besser damit umgehen. Der Lauf war nicht ganz fehlerfrei, aber ich war trotzdem zufrieden mit meiner Leistung. Ich konnte mich von Lauf zu Lauf steigern, vor allem mein Halbfinallauf hatte sehr gute Abschnitte und ich kämpfte bis zum Schluss, worauf ich stolz bin. Ich landete auf dem 18. Rang.
Rückreise
Leider konnte ich wegen der strikten Coronaregel, dass man spätestens 48 Stunden nach dem Wettkampf das Land verlassen haben muss, nicht den ganzen Slalomwettkampf meiner Teamkollegen mitverfolgen. Ich hatte noch einen Tag vor Ort, an dem ich meine Teamkolleg*innen anfeuern konnte. Am nächsten Morgen früh, als die Strassen im olympischen Dorf noch leer waren und die Sonne gerade am Aufgehen war, reiste ich ab. Ein grosses Abenteuer ging zu Ende. Die Rückreise verlief einwandfrei und viel schneller als die Hinreise, auch wenn es kein Business Flug war. Zurück in der Schweiz freute ich mich auf fünf Tage in den Bergen, bevor ich wieder in den Trainingsalltag zurückkehrte, um den Rest der Saison vorzubereiten.
Fazit
Ein Traum ist in Erfüllung gegangen, doch ich träume weiter und stecke mir weiter hohe Ziele. Der Prozess hin zu diesen Olympischen Spielen hat mir gezeigt, dass vieles möglich ist. Mein Ziel für diese Olympischen Spiele war primär, Erfahrungen zu sammeln für die Zukunft und den Halbfinal zu erreichen. Beides habe ich definitiv erreicht, und dabei sehr viel gelernt. Ausserdem nehme ich viel Motivation mit, um die nächsten drei Jahre weiter zu arbeiten, mich zu verbessern und in Paris weit vorne mitzupaddeln.